Diagnostik

Die Beurteilung der Fahreignung geschieht immer individuell in Abhängigkeit von Art und Schwere der Erkrankung oder Behinderung.

Mit (neuro)psychologischen Verfahren wird eine umfassende Untersuchung der fahrrelevanten kognitiv-psychischen Leistungsfähigkeit durchgeführt. Unter diesen werden insbesondere die visuelle Orientierung, die visuelle Auffassungsschnelligkeit, die Konzentrationsfähigkeit bzw. Resistenz gegenüber Ablenkungen, die flexible und adäquate Verteilung der Aufmerksamkeit, die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit unter hoher und lang anhaltender Belastung sowie die Reaktionsschnelligkeit und –sicherheit betrachtet.

Gemäß FSG-GV sollen folgende Anforderungsbereiche untersucht werden, wenn Zweifel an der kraftfahrspezifischen Leistungsfähigkeit bestehen:

  • Beobachtungsfähigkeit sowie Überblicksgewinnung
  • Reaktionsverhalten, insbesondere die Geschwindigkeit und Sicherheit der Entscheidung und Reaktion sowie die Belastbarkeit des Reaktionsvermögens
  • Konzentrationsvermögen
  • Sensomotorik und
  • Intelligenz und Erinnerungsvermögen

Diese Begriffe entsprechen allerdings nicht wissenschaftlichen kognitiven Modellen und werden auch nicht weiter definiert. Die Zuordnung zu neuropsychologischen Funktionen bleibt jedoch unklar.

Wie bestimmte Funktionsbeeinträchtigungen sich auf die Verkehrssituation auswirken, zeigt das folgende Beispiel:

Optische Inhalte werden in ihrem Bedeutungsgehalt nicht ausreichend schnell und sicher wahrgenommen. Die Aufmerksamkeitsverteilung ist unzulänglich, weil nur ein Teilbereich der für den Kraftfahrer bedeutsamen Informationen erfasst wird und/oder bei Situationswechsel, z.B. nach einer Phase der Monotonie, neue Informationen der Aufmerksamkeit entgehen. Die Aufmerksamkeitsbelastbarkeit ist zu gering, weil es unter Stress oder nach länger andauernder Beanspruchung zu fehlerhaften Wahrnehmungen, Interpretationen oder Reaktionen kommt. Die psychischen Leistungen sind instabil i.d.S., dass die erforderliche Ausgewogenheit zwischen Schnelligkeit und Sorgfaltsleistung fehlt.

Praktische Fahrverhaltensprobe

Neben der neuropsychologischen Untersuchung stellt die praktische Fahrverhaltensprobe eine weitere Untersuchungsmöglichkeit dar. Der Vorteil hierbei besteht darin, das tatsächliche Verhalten (z.B. Risikobereitschaft), Einsichtsfähigkeit und die Selbstwahrnehmung des Patienten beobachten zu können. Die Fahrverhaltensprobe stellt eine praktisch orientierte Überprüfung der Fahreignung in situ dar.

Fahrverhaltensproben werden in der Regel standardisiert durchgeführt und das Fahrverhalten aufgrund verschiedener Kategorien beurteilt (z.B. Spur- und Abstandhalten, Beachten der Verkehrsregeln oder Geschwindigkeitsverhalten). Diese kommen entweder bei der amtlichen Begutachtung von Fahrzeugumbauten zur Anwendung (sog. amtliche Beobachtungsfahrten) oder im Rahmen einer informellen neuropsychologischen Abklärung der Fahreignung zur Anwendung. Die Dauer sollte 60-90 Minuten betragen, um auch das Fahren unter nachlassender Aufmerksamkeit zu beobachten. Land-, Stadt- und Autobahnstrecken sowie unterschiedliche Situationen (Fahrstreifenwechsel, Überholen etc.) sollten in einer Fahrverhaltensprobe enthalten sein. Bei längerer Fahrpause wird zunächst eine kürzere Eingewöhnungsfahrt durchgeführt.

Zweifel an der Fahreignung können als ausgeräumt betrachtet werden, wenn ein Proband in einer praktischen Fahrverhaltensprobe nachweisen kann, dass sich die in der psychodiagnostischen Testsituation festgestellten Minderleistungen nicht negativ auf das tatsächliche Fahrverhalten auswirken. Das heisst, dass die Summe der Leistungsdefizite durch ein ausreichendes Kompensationspotential ausgeglichen werden können (erhöhter Risikosinn, sicherheitsbetonte u. verantwortungsbewusste Grundhaltung). Amtliche Beobachtungsfahrten können auch im Hinblick auf die Beurteilung der Kompensation gesundheitlicher Mängel durch erlangte Geübtheit angeordnet werden.

Einer Feststellung über die Fahreignung eines neurologisch erkrankten Patienten sollte immer eine aktuelle neurologische Untersuchung vorausgehen, ggf. mit EEG bei Verdacht oder Vorliegen eines Anfallsleiden, mit Elektromyographie und Elektroneurographie bei neuromuskulären oder peripher neurologischen Erkrankungen, und mit Ultraschalluntersuchungen der hirnversorgenden Gefäße zur Abschätzung des Risikos einer zerebralen Ischämie. Einschränkungen der für das Führen eines Kraftfahrzeuges notwendigen geistigen Leistungsfähigkeit müssen mit einer sachgerechten neuropsychologischen Untersuchung erfasst werden.

Diagnostischer Wert

Der diagnostische Mehrwert der sich aus einer informellen Abklärung der Fahreignung ergibt, ist darin zu sehen, dass der aktuelle Stand des Leistungsvermögens des Patienten genau eingeschätzt werden kann unter den Bedingungen der geltenden Schweigepflicht. Eine Abklärung kann dem Patienten als Nachweis seiner Erfüllung der Vorsorgepflicht gelten und evtl. den Vorwurf der Fahrlässigkeit entkräften. Bei der Verkehrssicherheit entsprechenden Ergebnissen kann eine befürwortende Bescheinigung ausgestellt werden, bei mangelhaften ein Therapieprozess der Fahreignung eingeleitet werden, sofern diese noch erreichbar erscheint.

Untersuchbare Funktionsbereiche und mögliche Einschränkungen

Visuelle Wahrnehmung

Bei der visuellen Wahrnehmung des Verkehrsgeschehens ist sowohl die Wahrnehmungsgenauigkeit als auch die Wahrnehmungsgeschwindigkeit von Bedeutung.

Als Folge neurologischer Erkrankungen können Wahrnehmungsprobleme entstehen. Für die Fahreignung besonders relevant sind Gesichtsfeldausfälle (Teile des Betrachtungsfeldes eines oder beider Augen fehlen), die eine genauere Gesichtsfelduntersuchung anhand eines Perimeters bedürfen.

Eine weitere Störung kann der visuelle Neglect sein. Dabei werden Reize (Personen, Hindernisse) auf der Raum- und Körperhälfte, welche der Hirnschädigung gegenüber liegt, nicht wahrgenommen bzw. vernachlässigt. Überwiegend ist dies die linke Seite vieler Patienten.

Weitere Störungen der visuellen Wahrnehmung sind z.B. Doppelbilder, verminderte Kontrastschärfe oder reduziertes Dämmerungssehen

Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeitsstörungen sind die häufigsten Störungen nach Hirnschädigungen Sie werden von Patienten häufig kaum wahrgenommen, fallen einem indirekt dadurch auf, dass man schneller ermüdet  oder in Gesprächen mit mehreren Personen oder mit lauten Nebengeräuschen nicht mehr folgen kann.

Folgende Aufmerksamkeitsbereiche können unterschieden werden:

Reaktionsgeschwindigkeit (Geschwindigkeit der Wahrnehmung und Verarbeitung von Umweltreizen – Beispiel: Wie schnell erfolgt die Bremsreaktion auf ein auftauchendes Hindernis). Hier kommt der Überprüfung der Auswirkung von (insb. Reaktionszeitbeeinflussenden) Medikamenten auf die Fahrtüchtigkeit ein hoher Stellenwert zu.

Selektive Aufmerksamkeit (Fähigkeit, die relevanten Informationen zu erkennen und auf diese rasch zu reagieren – Beispiel: Beim Fahren nicht durch Gespräche oder Radiohören abgelenkt werden)

Geteilte Aufmerksamkeit (Fähigkeit mehrere Informationsströme) ausreichend schnell und genau zu beachten – Beispiel: Gleichzeitiges Beobachten des Verkehrsflusses und der Hinweisschilder)

Daueraufmerksamkeit (Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitpunkt – Beispiel: Schnelles Reagieren bei langen Fahrtwegen)

Belastbarkeit unter Zeitdruck (Schnelle und genaue Reaktion auch unter bestehendem Zeitdruck.

Gedächtnis

Für das Autofahren spielen Gedächtnisleistungen eine Rolle, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsfunktionen. So müssen zum einen die Prozeduren des Autofahrens des Autofahrens (z.B. Bedienung des Autos, Verkehrsregeln) erinnert werden, zum anderen aber auch Wege oder Moment geltende Geschwindigkeitsbeschränkungen.

Sprachstörungen

Erworbene Sprachstörungen in Folge von Erkrankungen des zentralen Nervensystems (hpts. Schlaganfälle). Dabei können Sprechen und Verstehen ebenso wie Lesen und Schreiben betroffen sein.

Eine Aphasie an sich ist kein Ausschlusskriterium, jedoch kann sie dazu führen, dass eine Orientierung anhand von Wegweisern kaum noch möglich ist oder aber Hinweise auf Verkehrsregeln nicht mehr richtig interpretiert werden können. Hier sind Umgebungsbeschränkungen als Auflagen empfehlenswert (z.B. nur 50 km im Umkreis des Wohnorts).

Exekutiv-Funktionen

Hierunter werden Funktionen verstanden, die zielgerichtetes Verhalten ermöglichen. Dazu gehören Planungs- und Problemlösefähigkeiten, aber auch geistige Flexibilität, die Kontrolle und Bewertung unserer Handlungen. Bei beeinträchtigen exekutiven Funktionen bspw. im Rahmen von Schädel-Hirn-Traumata bestehen ergänzend Verhaltensauffälligkeiten (Enthemmung, Kontrollverlust) einhergehend mit einer reduzierten Selbstwahrnehmung und mangelndem Störungsbewußtsein

Fahreignungsrelevante Exekutiv-Funktionen:

  • Impulskontrolle (aggressive Tendenzen unterdrücken, Einhalten der Regeln)
  • Verantwortungsvolles Verhalten (Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer)
  • Selbsteinschätzung (Kritikfähigkeit, Urteilsvermögen)

Zur Beurteilung exekutiver Funktionen empfehlen sich Fahrverhaltensproben und Informationen von Angehörigen.

Persönlichkeit

Neurologische Erkrankungen können auch zu Persönlichkeitsveränderungen führen oder auch bereits vorbestehende Persönlichkeitsmerkmale stärker hervorheben, welche bspw. einen aggressiven, risikoreichen Fahrstil mit sich bringen.

Emotionalität

Auch das persönliche Befinden und Erleben kann durch neurologische Erkrankungen verändert werden (z.B. durch aufgepfropfte depressive Symptome). Depressionen verändern – auch wenn sie isoliert bestehen – unsere geistige Leistungsfähigkeit. Genauso verändern entsrpechend verabreichte Medikamente diese.